Victor Hammer und seine Unziale
Als Victor Hammer 1923 seine erste Unzialschrift entwirft, ist er 41 Jahre alt. Er hatte Malerei studiert und im Ersten Weltkrieg als Kriegsmaler gearbeitet. In den 1920-er Jahren wendet er sich zunehmend der Graphik und Typographie zu. Seit 1922 betreibt der Architekt, Maler und Graphiker aus Wien die Stamperia del Santucco, seine eigene Handpresse, in Florenz.
Was er da noch nicht wissen kann: Man wird ihn 1938 als Professor an die Akademie der Bildenden Künste in Wien berufen und ihm im folgenden Jahr diese Stelle wieder entziehen. Er wird in die USA emigrieren, zuerst nach Aurora (New York), später nach Lexington (Kentucky), wo er 1967 sterben wird. Allerdings wird er sein Leben lang der Unzialschrift zugeneigt bleiben und die ursprünglichen Entwürfe stets weiterentwickeln.
Die Unziale ist die ewig junge alte Dame der Handschriften. Das Römische Reich ist schon etwas in die Jahre gekommen, als sie, um das 2. oder 3. nachchristliche Jahrhundert, beginnt, das Schriftbild zu prägen. Vor ihr gab es die in Stein gemeißelte, würdevolle Capitalis und die mit der spröden Rohrfeder geschriebenen oder dem Griffel in Wachs geritzten Buchschriften. Dann kann man das rauhe Papyrus durch das glattere Pergament, die Rohrfeder durch den geschmeidigeren Federkiel ersetzen und damit geht das Schreiben plötzlich viel leichter von der Hand. In der Architektur halten die Rundbögen Einzug und so runden sich nun auch die Buchstabenformen. Zusammen mit den christlichen Lehren macht sich die Unziale auf den Weg in ferne Länder und entwickelt in den verschiedenen Sprachräumen recht eigenständige regionale Ausprägungen, so im Byzantinischen, im Griechischen, im Französischen, im Spanischen, im Italienischen und sogar im Afrikanischen. Besonders ausgeprägt findet sich dies bei den insularen Schriften in Irland, Schottland und England.
Mit der Zeit wachsen den Buchstaben Ober- und Unterlängen, die Schrift entwickelt sich zur Halb-Unziale. Nach den Schreibreformen Karls des Großen um 800, also nach Einführung der karolingischen Minuskel, werden die Unzialschriften nur noch wenig und eher als Schmuckschriften, für Überschriften oder Initialen, für Inschriften und Besonderes, genutzt. Mit einer Ausnahme: in Irland. Die ferne Insel fällt nie unter römische Herrschaft und auch die Schreibreform Karls des Großen macht schon weit vor ihren Gestaden Halt. So sind Unzialschriftformen bis heute im irisch-gälischen Sprachraum lebendig geblieben. Außerhalb Irlands finden sich unzialartige Schriften auch noch in Schottland, dort besonders gern und häufig genutzt auf der Isle of Skye.
Es liegt in der Natur einer Handschrift, dass sich zwischen den verschiedenen Ausformungen in Raum und Zeit fließende Übergänge ergeben, dass klare Trennungen zwischen dieser und jener Variante mitunter schwierig sind. Bei allen Veränderungen ist die Verbundenheit zwischen den Unzialschriften und religiösen oder christlichen Texten stets geblieben. Auch zeitgenössische Kalligraphen im irisch-gälischen Sprachraum verwenden unzialartige Schriftzüge oft für Gebete und Segenswünsche. Zusammen mit den ehedem keltischen Elementen hat sich hier eine ganz charakteristische Form der Ausschmückung entwickelt, bei der die Buchstabenformen mit floralen oder Tierformen verflochten werden oder verschmelzen. Die festliche Strenge der von Victor Hammer 1923 für die Schriftgießerei der Gebrüder Klingspor in Offenbach entworfenen Hammerschrift findet in diesen irisch-gälischen Handschriften ihren jauchzenden, freudig-lobpreisenden Gegenpart.
Victor Hammer gehört zu den Buch- und Schriftkünstlern, die im Zuge der Machtergreifung Hitlers und während der Herrschaft der Nationalsozialisten ihre europäische Heimat verlassen mussten, entweder weil sie offener Verfolgung ausgesetzt waren oder ihnen schlicht die Ausübung ihres Berufes unmöglich gemacht wurde. Einer der bekanntesten unter ihnen ist wohl Jan Tschichold, der 1933 sogar verhaftet wurde und nach seiner Freilassung noch im gleichen Jahr nach Basel emigrierte. László Moholy-Nagy ging 1934 in die Niederlande, später über London in die USA. Fritz Kredel, Graphiker und Illustrator aus Michelstadt, flüchtete sich 1936 zunächst nach Österreich zu Victor Hammer, reiste aber 1938 über Schweden nach New York aus. Auch Oskar Kokoschka, George Grosz und Max Beckmann mussten damals außer Landes gehen. Hier sind lediglich die bekannteren Namen genannt. Die Buchkunst und Typographie hat in diesen Jahren viele ihrer großen Talente ins Ausland verloren. Die für die Entwicklung der für Buch- und Schriftgestaltung in Deutschland so über die Maßen fruchtbare Zeit der Jahre bis 1930 hat damit ein erschreckend abruptes Ende gefunden.
Kaum einer der emigrierten Künstler hat sich im Exil vom Buch abgewandt. Namentlich in den Niederlanden blühte eine Buchkultur in Form von zum Teil illegal im Untergrund gemachten und in geschlossenen Zirkeln vertriebenen Büchern. Aber auch in den USA wurde in Sachen Buchkunst und Exilliteratur Beachtliches geleistet. Es fanden sich sogar Wege, Bücher mit anspruchsvoller Ausstattung und herausragenden Illustrationen zu fertigen, es lebten schließlich auch etlich namhafte Illustratoren im Exil. Victor Hammer hat weiter an seiner großen Schriftliebe, der Unziale, gearbeitet. Seine bekannteste Schrift, die American Uncial, hat er 1943 fertig gestellt. Und er hat auch in seiner neuen Heimat eine Handpresse auf die Beine gestellt und sich der Buchkunst gewidmet. Seine erste Station in den USA war Aurora im Bundesstaat New York, wo er von 1939 bis 1948 am Wells College unterrichtet hat. 1941 hat er die Wells College Press gegründet, seine neue Handpresse, in der er eine Reihe von bibliophilen Handpressendrucken verlegt hat. Dort wird auch heute noch die Victor Hammer Fellowship in the Book Arts ausgeschrieben.
Zum Weiterlesen:
Buchgestaltung im Exil 1933-1950 – Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 Der Deutschen Bibliothek. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden, 2004. ISSN 0948-5007, ISBN 3-447-05099-3
Erhardt D. Stiebner, Walter Leonhard: Bruckmann’s Handbuch der Schrift, 4. Aufl., Bruckmann, München 1992. ISBN 3.7654-2564-8
Edouard Isphording: DraufSichten – Buchkunst aus den deutschen Handpressen und Verlagen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Sammlung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Faber & Faber, Leipzig, 2005. ISBN 3-936618-51-8
Marion Janzin, Joachim Güntner: Das Buch vom Buch – 5000 Jahre Buchgeschichte. Schlütersche, Hannover, 1995. ISBN 3-87706-026-9
Kontakte:
Klingspor-Museum, Herrnstr. 80 (Südflügel des Büsing Palais). 63061 Offenbach am Main
Deutsche Nationalbibliothek
Deutsche Nationalbibliothek – Ausstellungen – Adickesallee 1, 60322 Frankfurt am Main
Germanisches Nationalmuseum
Victor Hammer Fellowship: Wells College of the Book Arts in Aurora, New York, USA: