Advent

Versuch über ein künstlerisches Format: Buchkunst

Kann ein Buch Kunst sein? – Was ist ein Künstlerbuch?
Ein Essay von Annette C. Dißlin – Buchkünstlerin – anlässlich des 20-jährigen Bestehens ihres Ateliers

Wir schreiben das Jahr 2019 und alle reden vom Bauhaus. Einer der damals schon revolutionär anmutenden Ansätze der Bauhausleute war es, die Brücke zu schlagen zwischen Handwerk und Kunst. Die Mauer zwischen beiden sollte eingerissen werden, die Trennung aufgehoben. Sie sollten eins werden, weil sie eins seien: „Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker.“ so formulierte es Walter Gropius im Bauhausmanifest anno 1919. Aber das Bauhaus ging dann doch einen anderen Weg. Und so reden wir uns auch heute noch die Köpfe heiß über die Abgrenzung zwischen reiner und angewandter Kunst, zwischen echter Kunst und Kunsthandwerk. Überspitzt könnte man sagen, nach dem Verständnis der Zollbehörden ist nur das Kunst, was unnütz ist. Denn, was man benutzen kann, kann keine Kunst sein. Es soll Zöllner geben, die mit Überzeugung sagen: „Bücher sind nie Kunst.“ Pauschalurteile haben allerdings mitunter ihre Tücken: Die meisten davon bestehen den Stresstest nicht. 

Künstlerbuch “Menschen.Würde.Rechte“,
Handsatz aus der Futura, Holzmaserung im Handabrieb, Zwillingsleporellobuch,
Einband aus Seide

Eine künstlerische Idee kann Gestalt annehmen in Form eines Gemäldes, einer Skulptur, einer Installation, einer Performance. Es gibt Kunstwerke, die nach einer bestimmten Spanne Zeit verschwinden, nahezu rückstandslos, oder zerlegt und weggeräumt werden. Christo hat Gebäude eingepackt und damit temporäre Kunstwerke geschaffen. Und Jean Tinguely hat kinetische Kunstwerke geschaffen: sie bewegen sich, können umherfahren und in Brunnen Wasser versprühen und von hier nach dort befördern. Ihre Funktionalität, ihre Benutzbarkeit hat nicht zur Folge, dass sie nicht als Kunst eingestuft werden können.

Die Frage muss also eher lauten: Warum sollte ausgerechnet ein Buch kein Kunstwerk sein können? Salvador Dali, Max Ernst, Paul Klee, Pablo Picasso, Anselm Kiefer, Sol LeWit, Andy Warhol – dies ist nur eine kleine Auswahl bekannter Namen, unter deren Werken sich auch Künstlerbücher finden. Es gibt spezielle Messen, Biennalen, Museen und Sammlungen für Künstlerbücher. 

Künstlerbuch “Posito … Gesammelte Makulaturen” Band 5

Wir halten fest: Es gibt das Buch als Form einer Publikation, so wie es die Zeitung, das Magazin oder die Broschüre gibt. Und es gibt das Buch als Form eines Kunstwerkes, so wie es das Gemälde, die Skulptur oder die Installation gibt.

Was ist ein Buch? 
Ein Buch ist ein Etwas, mit dem Informationen oder Geschichten gesammelt, bewahrt und transportiert werden können. Oft ist es in einen Innenteil, der die inhaltliche Komponente trägt, und einen Außenteil, die schützende Hülle, gegliedert. Das Buch kann eine Rolle sein oder mit Fäden/Schnüren aus Einzelteilen zusammengeheftet. Die Einzelteile können aus Holz- oder Tontafeln bestehen, aus Tierhaut, Papyrus, Seide oder Papierbogen. Die Informationen können eingeritzt sein, gemalt, geschrieben oder gedruckt. Um an die Informationen oder Geschichten im Innern der Bücher heranzukommen, muss man die Bücher anfassen, öffnen und die Innenseiten blättern oder abrollen. Anders formuliert: ein charakteristisches Merkmal für ein Buch ist seine Funktionalität, seine Mechanik, dass man es bewegen, mit ihm hantieren muss. Ein Buch ist auch dann schon ein Buch, wenn seine Innenseiten noch keine Informationen enthalten und diese erst nach und nach eingetragen werden. Ein Buch muss nicht, kann aber in einer Auflage von wenigen bis vielen Exemplaren vorliegen. Es kann aber auch ein Unikat sein – wie zum Beispiel die von Mönchen handgeschriebenen Bibeln aus der Zeit vor Johannes Gutenberg oder ein persönliches Tagebuch.

Künstlerbuch-Reihe “Posito … Gesammelte Makulaturen” alle 10 Bände

Es scheint leichter zu sein, etwas als Kunstwerk einzustufen, wenn es davon nur ein Stück gibt, wenn es also ein Unikat ist und so nicht noch einmal geschaffen werden kann. Ein Gemälde, eine Zeichnung, eine Skulptur. Dies ist allerdings trügerisch. Für eine Bronzeskulptur zum Beispiel gibt es in der Regel eine Gießform. Wird diese nicht bei oder nach dem ersten Abguss zerstört, kann auch mehr als eine Skulptur damit gegossen werden. Verliert dann die zuerst gegossene Skulptur ihren Kunststatus, sobald eine zweite gegossen wird? Die Holzschnitte von Dürer gelten, genau wie die von HAP Grieshaber als Kunstwerke – unabhängig davon, wieviele Abzüge von den jeweiligen Druckstöcken gedruckt wurden. Gleiches gilt für die Radierungen von Goya und Rembrandt. Für Originalgraphiken wird gefordert, dass die dazu nötigen Druckstöcke vom Künstler selbst entworfen und gefertigt wurden und die Drucke vom Künstler eigenhändig gedruckt wurden. Auch dies ist so nicht immer der Fall. Chagall ließ viele seiner Lithographieblätter von erfahrenen Druckermeistern in Auflage drucken, hat also die Druckpressen nicht selbst bedient. Picasso ist mit seinen vielfarbigen Linolschnitten ähnlich verfahren. Nichtsdestotrotz werden eben jene Graphikblätter als Kunstwerke der jeweiligen Künstler angesehen.

Und was ist nun ein Künstlerbuch? 
Das Künstlerbuch ist ein Kunstwerk in Buchform oder mit einem engen Bezug zu charakteristischen Eigenschaften des Buches. Es ist vom Künstler konzipiert und meist ganz oder in den wesentlichen Teilen von ihm selbst geschaffen. Es kann auch eine Gemeinschaftsarbeit mehrer Künstler sein. Künstlerbücher können als Unikat erscheinen oder in limitierten Auflagen, wobei die einzelnen Bücher dann in der Regel nummeriert und signiert sind, ähnlich Originalgraphiken.

Künstlerbuch “away“, Auflage von 12 Unikaten

Es gibt wie überall in der Kunst auch hier fließende Übergänge. Es gibt die Berührung mit der Bildhauerei: skulpturale Werke der Buchkunst ohne jede buchtypische Funktionalität – Werke für Podest oder Vitrine. Es gibt Berührungsflächen zum konventionellen Buchhandelsbuch: wohlfeile, außergewöhnlich schön gestaltete und sorgsam hergestellte Bücher – bibliophile, reich illustrierte Ausgaben, von Verlagshäusern herausgegeben, mit ISBN. 

Es greift zu kurz, wer meint, man könne anhand der eingesetzten Techniken oder anhand der Höhe der Auflage entscheiden, ob ein Buch ein Kunstwerk ist oder nicht. Entscheidend ist wie bei jedem anderen künstlerischen Format stets die Idee, die hinter dem Werk steht. Die Vorstellung des Künstlers ist es, die ihn die passenden Techniken wählen lässt, mit denen er die Idee am besten umsetzen, seine Ziele erreichen kann. Aus diesem Grund gibt es zu einem Künstlerbuch immer auch die Geschichte zu erzählen, wie es genau die Gestalt bekommen hat, in der es vor uns liegt. Dazu gehören die Wahl der Materialien und der Heftung ebenso wie die Illustrationen, die Typographie und gegebenenfalls die Drucktechnik. Manche Buchkünstler nutzen den Buchdruck von beweglichen Lettern für ihre Arbeit im Zusammenklang mit originalgraphischen Verfahren wie Holzschnitt, Linolschnitt, aber auch Radierung. Andere arbeiten mit Collagetechniken, nutzen digitale Verfahren oder setzen Fotografie ein. Zum Binden der Bücher werden oft klassische oder auch experimentelle handwerkliche Techniken der Buchbinderei eingesetzt. 

Künstlerbuch “Wo roter Mohn tanzend blüht“, Leporello in Mappe, mit 5 Holzschnitte, Handsatz aus der Trajanus

Und damit sind wir wieder der Idee der Bauhäusler ganz nahe, dass es zwischen Handwerk und Kunst keinen Wesensunterschied gibt. Und in gewisser Weise mag das Künstlerbuch, vielleicht sogar ganz im Bauhaus-Sinne, als Gesamtkunstwerk gelten. Auch wenn man beim Bauhaus in Weimar und später in Dessau das Bauwerk als ultimatives Gesamtkunstwerk im Visier hatte. Am Ende bestehen zwischen dem Buch und dem Bauwerk sogar mehr Ähnlichkeiten, als man zunächst denkt. Beide geben ihrem Inhalt einen Ort und Schutz vor Widrigkeiten. Beide verfügen über charakteristische Funktionalitäten. Beide lassen sich öffnen und man kann in ihrem Innern auf Entdeckungsreise gehen oder sich wahlweise genüsslich darin verlieren.

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