Advent

Bücher können ganz anders, man muss sie nur lassen …

Mit Büchern ist es ein bisschen wie mit Menschen: sie sind nicht alle gleich. Sobald die Ausgestaltung eines Buches nicht von den Staffelpreisen für Materialien und Fertigungsprozessen diktiert wird, eröffnen sich für Bücher eine große Vielzahl von Möglichkeiten. Sie werden dann zu Erlebniswelten, in denen ungewöhnliche Materialien überraschende Verbindungen miteinander eingehen können. Es können sich auch Funktionalitäten ergeben, die man in einem Buch nicht unbedingt erwarten würde.

Klebstofffreie Bindung – Open Spine Binding

Die Art der Bindung oder Heftung gibt einem Buch ganz spezielle Charakteristika. Das gleiche Buch anders geheftet oder gebunden, wird zu einer völlig anderen Sache. Umgekehrt kann eine spezielle Buchidee mit einer passenden Heft- oder Bindetechnik besonders gut zum Ausdruck kommen – mit einer anderen Technik jedoch nahezu verloren gehen. Und ein und dasselbe Bindeprinzip kann völlig unterschiedliche Bücher ergeben abhängig vom verwendeten Material für die Seiten des Buches. Daher steht die Frage nach der Art der Bindung oder Heftung ziemlich am Anfang eines Buchprojektes.

Werkzeuge & Materialien des Buchbinders: Heftnadeln, Falzbein, Kapitalbandschere, Leinenzwirn

Der erste Standort meines Ateliers war nur ein paar Kilometer entfernt von Stuttgart. Dort gab es seinerzeit im Stadtteil Bad-Cannstadt das Buchbinder-Colleg. Es war eine Einrichtung der Buchbinder-Innung und wohnte sozusagen in einer alten Villa. Meister und Meisterinnen unterrichteten dort Auszubildende des Buchbinderhandwerks. Zum Programm gehörten aber auch Kurse für einen größeren Interessentenkreis. Ich habe verschiedene Kurse dort besucht. Wir haben spezielle Buntpapiere gemacht, Tuschen und Tinten angemischt wie in alten Zeiten, uns in historische Hefttechniken vertieft, mit experimentellen Heftechniken gespielt und wir haben die zarten Japanheftungen kennen gelernt. 

Künstlerbuch “52 Weeks

Die klassischen japanischen Hefttechniken gehören zu den Blockheftungen. Bei ihnen wird senkrecht durch den Buchblock geheftet. Das hat sich letztlich auch deswegen für die asiatischen Buchtypen so gut bewährt, weil die Japanpapiere sehr dünn und biegsam sind. Werden steifere Papiere dafür verwendet, lassen sich die Seiten nur vernünftig blättern, wenn eine Gelenkzone eingebaut wird. Wir kennen das von manchen Albentypen, die mit Kordeln oder Buchschrauben senkrecht durch den Block zusammengehalten werden. Man kann ein solches Gelenk ganz unterschiedlich hinkriegen. 

Bei meinem Künstlerbuch „52 Weeks“ ist das ganz klassisch mit einem Streifen aus Einbandgewebe gelöst. Zusammengehalten werden die Bogen von Messingbuchschrauben – wie bei einem Fotoalbum. Das Buch erzählt ein Jahr im Leben von zwei Brieffreundinnen. Eine lebt in Australien, die andere in Deutschland. Jede Doppelseite zeigt zwei Fotos und die dazugehörigen Texte – zwei Momente aus der gleichen Woche aber von entgegengesetzten Plätzen auf dieser Erde. Jeder der vier Bände enthält 13 Wochen, alle vier zusammen erzählen von einem Jahr im Leben zweier Menschen an Orten, die kaum weiter voneinander entfernt sein könnten.

Eine andere Lösung für das Gelenk fand sich für das Buch „Meine Worte fallen wie Steine“. Es ist eine Sammlung von Postkarten, auf denen Sätze stehen, die tatsächlich gefallen sind. Jemand, dessen Vorname auf der Karte steht, hat den Satz irgendwann einmal, das Jahr steht neben dem Vornamen, zu mir gesagt. Die Karten sind auf ganz alter, steifer Strohpappe gedruckt. Das Gelenk für die Blockheftung ist eine Zickzacknaht aus der Nähmaschine.

Künstlerbuch “Position … Gesammelte Makulaturen” Band 9

Für die klassische Fadenheftung wird waagrecht durch den Buchrücken geheftet mit Leinenzwirn. Dafür müssen alle Bogen im Rücken gefalzt sein. Daher fängt hier die Arbeit damit an, alle Bogen zu sogenannten Lagen zu falzen.

Ist alles gefalzt, werden die Lagen in der Buchbinderpresse eingepresst, danach kann geheftet werden, zum Beispiel auf der Heftlade. Das Ergebis ist der Buchblock, der dann, nach einigen weiteren Handgriffen, in die separat gefertigte Buchdecke eingehängt wird. Bei dem Werk „Das Nußzweiglein“ wurden zusätzlich Nussblätter eingearbeitet. Die Blätter wurden zunächst sauber gepresst in einer Herbarpresse. Danach wurden sie in Seidenpapier eingebettet und diese Bogen in den Buchblock mit eingeheftet. 

Künstlerbuch “Manarah 4: Wind

Die einfachste Variante ist hier freilich, wenn nur eine einzelne Lage zu heften ist. Das kann dann wie bei einem alten Schulheft gemacht werden, mit einer Heft-Heftung oder Rückenstichheftung. So entstehen broschüren- oder heftartige Bücher. Die Reihe „Manarah“ ist so konzipiert. Es sind magazinartige Künstlerbücher zu jeweils einem Thema. Auch das Werk zu Paul Klees Gedanken über den Pfeil ist so geheftet, allerdings wurde hier an zwei getrennten Stellen im Rücken geheftet, damit in der Mitte kein Heftfaden über dem Inhalt der mittleren Doppelseite liegt.

Abgesehen von der Rückenstichheftung gibt es noch andere Heftweisen, die ohne jeden Gebrauch von Klebstoff auskommen. Oft ist bei diesen Büchern die Heftweise offen sichtbar am Buchrücken. 

Künstlerbuch “Rucola – Wer hat das gefunden?

Die koptische Heftung gehört auch in diesen Bereich. Sie ist eine sehr alte Hefttechnik und stammt aus dem Orient. In alten Zeiten standen die verschiedenen Farben der Heftgarne für unterschiedliche Buchinhalte: rot wurden die Gesetzestexte geheftet, blau die Trauerangelegenheiten und grün die Texte der Propheten. Diese Heftweise gibt eine Art Kettenstichmuster quer über dem Buchrücken. Sie hat eine Reihe von Vorteilen, unter anderem lässt sie sich sehr flach aufschlagen. Außerdem ist das Buch in seiner Dicke nicht so festgelegt, das heißt, es können auch nachträglich noch Notizen oder auch Fotos eingefügt werden. Damit war diese Heftweise ideal für mein Werk „away“. Jedes der 12 Unikate enthält 12 Fotos, die nachträglich in das Buch eingeklebt wurden.

Künstlerbuch “away

Das Gegenstück zur klebstofffreien Bindung ist die Bindung ohne Zwirn. Das kann interessant sein, wenn Illustrationen wie Original-Holzschnitte über die gesamte Doppelseite laufen. Bei einer Fadenheftung würde dann der Heftzwirn in der Mitte über der Illustration liegen und diese stören. Die im Englischen als „Stiff Leaf Binding“ bezeichnete Variante ist bei dem Künstlerbuch „Cumbria“ eingesetzt. Hier sind die Papierbogen vor dem Druck beidseitig mit Erdpigmentfarben eingefärbt worden. Darüber wurden dann Texte und Holzschnitte gedruckt.

Für das Werk „Menschen.Würde.Rechte“ habe ich mit dem Prinzip der Zickzackfaltung, dem Leporello, experimentiert. Entstanden ist ein Zwillings-Leporellobuch mit eigener Dynamik. Der Einband: rote Wildseide – die Farbe der obersten Richter. Der Inhalt ist eine Auswahl von Artikeln aus der Erklärung der Menschenrechte. Das Buch kann endlos im Kreis geblättert werden, was die dauerhafte Gültigkeit der Menschenrechte zum Ausdruck bringen will.

Künstlerbuch “Mir fehlt ein Wort

Ganz besonders in Bann geschlagen hat mich eine der historischen Techniken gleich als wir sie im Kurs kennengelernt haben: die Preußische Archivheftung. Sie ist so zweckmäßig wie faszinierend. Entwickelt wurde diese Technik für Akten, in die immer mal wieder etwas eingefügt werden musste. Die Dokumente konnten in Umfang und Format variieren und wurden mitunter gefaltet, damit sie in den Umschlag passten. Dieser war sozusagen mit Reserve ausgestattet, so dass bei Bedarf über Jahre weitere Dokumente hinzugefügt werden konnten. Auch konnten Dokumente zu Kopierzwecken entnommen und später wieder an der ursrprünglichen Stelle eingeheftet werden. Ein Musterbeispiel preußischer Effizienz.

Künstlerbuch “Mir fehlt ein Wort”

Für das Künstlerbuch zu Kurt Tucholsky mit dem Titel „Mir fehlt ein Wort“ war die Preußische Archivheftung die einzig richtige und geradezu ideal. Dem Buch liegt eine – fiktive – Geschichte zu Grunde, nach der ein junger Drucker in der Weimarer Zeit Abfallbogen mit interessanten Texten sammelt und sich zu Mappen heftet. Ein befreundeter Buchbinder hat ihm eben jene Heftweise erklärt. Sie geht gut und rasch zu machen – wenn man den Dreh erst raus hat. Nachdem der junge Drucker Deutschland Anfang 1933 überstürzt verlässt, fallen die Mappen der Partei in die Hände und werden damit zu Ermittlungsakten, um Kurt Tucholsky zum Landesverräter zu stempeln und ihm die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen – was dann im August 1933 auch erfolgt.

Künstlerbuch “Mir fehlt ein Wort

Buch ist eben nicht gleich Buch. Es gibt Bücher, die fallen fix&fertig aus vollautomatisierten Fertigungsstraßen, werden in einer Auflage von mehreren Tausend Exemplaren ausgeworfen, in Dutzende Sprachen übersetzt, stehen monatelang auf Bestsellerlisten, und manche davon werden am Ende zu einer Serie von Blockbustern verfilmt. 

Aber es gibt auch die anderen Bücher. Ich meine die Bücher, bei denen es um das Buch als Ganzes, als Gesamtwerk geht. Wo das Buch nicht einfach die Hülle für einen Text ist, sondern dem Text zur Seite treten darf. Ich meine Bücher, bei denen es darum geht, einen Inhalt in einen, vielleicht auch ungewohnten, Kontext zu stellen und dadurch neue Sichtweisen und Blickwinkel zu ermöglichen. Die Bücher, die ich meine, sind Werke der Kunst – wie ein Gemälde oder eine Skulptur Werke der Kunst sind. Mit dem nicht unwesentlichen Unterschied, dass Künstlerbücher keine Kunstwerke fürs Podest sind, ganz im Gegenteil: sie sind dafür gemacht, in die Hand genommen zu werden, in ihnen soll geblättert, gelesen werden – sie wollen entdeckt und erforscht und erfahren werden. Wie ein Haus, das Stockwerk für Stockwerk, Raum für Raum entdeckt und erkundet wird.

Die Bücher, die ich meine, erscheinen in limitierter Auflage. Vielleicht 10, vielleicht 50 nummerierte und signierte Exemplare. 100 sind schon viel. Die Menschen, die diese ganz anderen Bücher machen, sind Künstler. Es sind Pressendrucker, Typographen, Druckkünstler, manche oder mancher war einst Buchbinder, Buchhändler, Buchdrucker oder Schriftsetzer – oder ganz was anderes. Wenn sie sich für einen Text, einen Autor, ein Thema entscheiden, dann weil sie diesen Text, diesen Autor, dieses Thema wichtig finden. Ihr Buch, sein Inhalt und die Ausgestaltung sind ihnen ein Anliegen. Sie wählen keinen Bedruckstoff, sie suchen mit Bedacht das richtige Papier aus oder lassen es eigens für ihr Projekt schöpfen. Sie suchen kein Einbandmaterial, sie ziehen ihrem Buch die passenden Kleider an. Sie sind offen für Neues, vorausgesetzt es fügt sich in die Idee ihres Werkes.

Künstlerbuch “Three Sonnets“,
erschienen bei The Fork and Broom Press im Oktober 2020

Neue Wege kommen immer auch mit neuen Möglichkeiten. Sie auszuloten und weiterzuentwickeln, das ist der Wesenskern der Kunst.

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